Ausstellung für Bildkunst und Handfertigkeit in Zitaten

Ausstellungspublikum

 
 
 

Die Ausstellung bot die seltene Gelegenheit, einen größeren Teil der Shikoku-Bevölkerung beisammen zu sehen. Leider traf man von der vielgerühmten Schönheit der Shikoku-Mädchen nur sehr geringe Spuren. Der allgemeine Eindruck ist eigentlich weniger, daß man viele Japaner gesehen hat, als vielmehr, daß man den Japaner oder die Japanerin in verschiedenen Alterstufen vor sich hatte. Einige wenige hübsche Mädchengesichter und einzelne wirklich interessante Fragesteller bestätigen die Regel. Äußerlich war das Bild oft ein festliches und frohes. Man konnte sehr hübsche Kimono und Hakama sehen und ganz besonders die Mädchenschulen in ihren besten Feiertagsstaat machten meistens einen allerliebsten Eindruck. Die Haare waren sorglich frisiert und dufteten glücklicherweise noch nicht ganz so nach Öl wie im späteren Alter. Blau, rot und dunkellila waren die hervorstechenden Farben in den Röcken. Mit den schräg über die Brust geknüpften Tüchern, die auf dem Rücken das mitgebrachte Essen enthielten, machten manche Klassen einen fast militärisch akkuraten Eindruck.

 

Viel Verständnis war von den Kindern nicht zu verlangen. Sie wurden wegen des gewaltigen Andrangs viel zu schnell durch die Ausstellungsräume gehetzt. Für die meisten von ihnen war es wohl mehr ein zu erledigendes Pensum als ein Vergnügen, bei dem es etwas zu lernen und zu verstehen gab. Denkt man an die eigene Schulzeit, so wird man es den Kindern teilweise nachfühlen können. Aber auch bei den Erwachsenen wurde ich oft an die Frageweise von Kindern erinnert: ‚Mutti, was ist das? – Eine Dampfmaschine! – Ach so, eine Dampfmaschine. Und das da? ---.’ Es ist ein bezeichnender Zug für die ganze Art der Anschauung. Daß z.B. in der Abteilung für Modelle und Schiffbau die größte Attraktion eine kleine Puppe war. Sie sollte das Publikum auf einer Brücke für Schwerbelastung vorstellen und hatte eigentlich herzlich wenig mit dem Zweck des ganzen Raumes zu tun.
Ein Fremder hätte sich vielleicht durch die scheinbar schrankenlose Bewunderung und die außerordentliche Höflichkeit täuschen lassen. Wer japanische Verhältnisse einigermaßen kennt, weiß, daß beides einfach zum guten Ton gehört und keinen Maßstab für das wirkliche Gefühl bietet. Immer wiederkehrende Redensarten, wie ‚go rippa de gozeimas na’ und ‚yoku dekite imas na’ konnte man täglich zu Hunderten hören. Dabei gebietet die Höflichkeit, die Töne, wie beim Staunen eines ehrfurchtsvollen Kindes, tief aus der Brust herauszuholen, den Kopf bewundernd auf die Seite zu wackeln, und die Luft möglichst geräuschvoll durch die Zähne einzuziehen. Am natürlichsten klingt es noch bei den alten Damen. Die dankbarsten Dolmetschobjekte waren sie jedenfalls, diese alten Damen; wenn auch böse Zungen behaupten, daß manche Dolmetscher sich grundsätzlich nur bei hübschen jungen Mädchen auf ihre japanischen Kenntnisse besonnen haben. Ein altes Mütterchen machte mir ganz besonderen Spaß, weil sie mir ein über das andere Mal versicherte: die Deutschen, die seien doch ganz unheimlich jozu (geschickt) und die Japaner, die wären dagegen ziemlich baka (Dummköpfe). Und wie prächtig sei doch dieses kleine Hausmodell gegen die häßlichen und schmutzigen japanischen Häuser. – Trotz meiner liebenswürdigsten Proteste und vornehmlichen durch-die-Zähne-ziehen ließ sie sich nicht davon abbringen. Und dabei stets dieses Lächeln. Von Gelehrten und Poeten ist viel über dieses Lächeln geschrieben worden. Die einen nennen es Maske und Fratze, die anderen sehen in ihm den Ausdruck heiterer abgeklärter Lebensfreude und Lebenskunst. Nach welcher Seite man sich neigen will, kommt auf den Standpunkt an. Will man nur mit europäischen Augen sehen, so wird man es entweder als Fratze verurteilen, oder es als eine exotische unbekannte Blume bewundern. Denkt man dagegen an die vielen außereuropäischen Dinge, die, obgleich uns fremd, doch eine Eigenberechtigung aus sich selbst heraus haben, so wird man wenigstens nicht so lärmend der Europäer bleiben. Behauptet jemand, ganz mit japanischen Augen zu sehen, so glaube ich, er versteht es gar nicht. – Vielleicht liegt in diesem Lächeln ein Stück praktischer japanischer Philosophie verborgen. Einer extremsten Philosophie der Form, zu der uns nur die Schlüssel noch fehlen. Daß diese Philosophie zum mindesten bei der Jugend noch nicht so ganz festsitzt, zeigt ein kleiner Zwischenfall, den ich eines Mittags auf der Ausstellung erlebte:

 

Ich aß im Zelt und sofort sammelten sich etwa 50 Zuschauer, die mein Hantieren mit den lebensgefährlichen Werkzeugen mit lebhaftem Interesse kommentierten. Als ich nachher aufstand und mich noch einmal umdrehte, sah ich wie ein kleines Mädel sich neugierig über den leeren Teller beugte. Kaum aber war sie mit dem Rotznäschen in seiner Nähe, als sie auch schon schleunigst wieder kehrt machte und gar nicht lächelnd, sondern mit dem Ausdruck aufrichtigen Abscheus, ihrer Mutter zubrüllte: kusai! kusai! (es stinkt! es stinkt!). Ich fand, daß mein armes seliges Kotelett das eigentlich nicht verdient hatte und fühlte fast ein wenig das Kotelett in mir beleidigt. Dann gab mir das kleine Erlebnis aber bald noch anders zu denken. Ich überlegte nämlich, wie mancher von meinen doch gar nicht mehr so kindlichen Bekannten ebenso wenig Hehl aus seinem Abscheu vor japanischem Essen, und nicht nur vor dem Essen macht. Nächstes Mal will ich ihnen doch sagen, ob sie nicht ein wenig von dem geschmähten Lächeln adoptieren wollen.
Rotznäschen sollte übrigens für die Kleine kein Schimpfwort meiner beleidigten Europäerwürde sein. Sie hatte wirklich eins. Es gab sogar noch mehrere. Und wenn ich richtig unterscheide, so fehlte es zwar nicht bei den höheren Schulen. Dagegen schien bei den unteren dieser Teil der Körperpflege im Stundenplan noch recht vernachlässigt zu werden.
Nicht weit über der Nase sitzt das Gehirn. Auch da heraus tropfte es manchmal in ganz merkwürdigen Schlitterbahnen. – Die Damen hatten natürlich viel Interesse für die Theaterabteilung und folgten, wie man hört, auch gespannt den Erklärungen. Es war aber auch eine reine Freude, wie die Dolmetscher mit den entlegensten Shogun-Perioden um sich warfen. Als ob sie ihr ganzes Leben lang nur japanische Geschichte studiert hätten. Da steht nun die alte Dame schon eine ganze Weile vor einem Kleid. Ich glaube, es war das grüne hochgeschlossene aus dem „Götz von Berlichingen“. Sie scheint ernst darüber nachzudenken. Anu na – der Dolmetscher freute sich wohl schon über die kunstverständige Dame, hat wahrscheinlich auch seine Ashikaga-Periode schon parat, da meint sie kopfschüttelnd: ‚Ja, wie wird dann nun aber ein Kind durch dieses Kleid gestillt’?!!--- Um die Antwort habe ich ihn nicht beneidet. Wenn ich vielleicht auch schon die Ashikaga-Periode nachgeschlagen hätte. Auf die Vokabel ‚Kinder stillen’ hätte ich mich für die Theaterabteilung ganz gewiß nicht vorbereitet.

 

Zu mir kam eines Tages ein schlanker Herr in nicht mehr ganz modernem Gehrock. Der schwarze Hut schien auch nicht für ihn gemacht zu sein, denn der Kopf erinnerte etwas an Circus. Ich erkläre ihm gerade die verschiedenen Schiffsmodelle, da sieht er mich plötzlich prüfend von der Seite an, und ich verstehe etwas von ‚Linden’. Ich denke natürlich, er ist Fachmann und will wissen, ob das Lindenholz ist. Schlage extra im Lexikon nach, was japanisch ‚Linde’ heißt und frage zurück: ‚Bodaiju?’ – ‚Nein, ‚Unter den Linden’!’ – Man wird es begreiflich finden, daß ich fragte: ‚Ja, und - ?’ – Er reagierte aber gar nicht weiter und schien sich mit der Feststellung zu begnügen. Das wunderte mich zwar, doch ich erklärte ruhig weiter. Plötzlich auf der anderen Seite bei den Flaschenschiffen sieht er mich wieder so merkwürdig an und sagt: ‚Leipzig!’ Ich machte mir diesmal die Lindenerfahrung zu nutze und erzähle ihm ruhig, daß das in der Mitte eine furanso no yosai, eine französische Festung, sei. Da fährt er mit einem Mal, nachdem ich ihm auch die Drahthindernisse und drehbaren Panzertürme auseinandergesetzt habe, fort: ‚In Sachsen!’ Damit war aber schon wieder die Leitung gerissen, und als ich hinterhaken wollte, drückte er sich schleunigst. Jedenfalls habe ich aber daraus die Lehre gezogen, daß es besser ist, die Leute in ihren Gedankengängen nicht zu stören. Denn dieses ‚Leipzig – in Sachsen’ legt doch die Vermutung nahe, daß er, wenn ich ihn ‚unter den Linden’ nicht durch Nachschlagen gestört hätte, vielleicht auch noch ‚Berlin’ oder ‚Kreis Teltow’ gesagt hätte.
Im Hauptausstellungsraum des Kokaido wird ein Trupp japanischer Zuschauer von einem Dolmetscher an den Bilderwänden entlang geführt. Einer weist auf ein großes Tsingtau-Bild und fragt, was das ist? ‚Kore wa Tchientau no kesh’ki des!’ (‚Das ist eine Ansicht von Tsingtau’)! – ‚Ah so des’ka? Tsingtau, da ist ja Bismarck geboren, nicht wahr?’ – Dicht daneben hängt ein anderes Bild. Ein alter Mann mit weißem Bart, der nachdenklich den Kopf stützt. Ein Besucher fragt, ob das Eucken sei. Hiergegen wäre an sich noch nichts einzuwenden. Aber dann. Der Dolmetscher verneint und hört: ‚Ja, dann wäre es doch aber sicher Goethe oder Nietzsche! – ’.
H.E. [vermutlich Hans Eggebrecht, einer der Dolmetscher auf der Ausstellung]

 
 
 

Volltext aus: Die Baracke Bd. 2, No. 2 (28), 7. April 1918, S. 32-39